HANDELS- UND GESELLSCHAFTSRECHT

08.07.2024

Sitztheorie und Gründungstheorie im Gesellschaftsrecht – Eine kurze Übersicht

Im Gesellschaftsrecht sind die Begriffe "Sitztheorie" und "Gründungstheorie" von zentraler Bedeutung. Diese Theorien bestimmen, welches Recht auf eine Gesellschaft anwendbar ist und haben weitreichende Konsequenzen für die Praxis, insbesondere im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit und die grenzüberschreitende Mobilität von Gesellschaften innerhalb der Europäischen Union.

1. Definition der Begriffe

a) Sitztheorie

Die Sitztheorie besagt, dass das Gesellschaftsrecht des Staates gilt, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. Dies bedeutet, dass sich die Gesellschaft den rechtlichen Rahmenbedingungen dieses Staates unterwerfen muss, unabhängig davon, wo und in welcher Gesellschaftsform sie ursprünglich gegründet wurde.

b) Gründungstheorie

Die Gründungstheorie hingegen bestimmt, dass das Recht des Staates gilt, in dem die Gesellschaft gegründet wurde. Dabei bleibt es unerheblich, wo die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. Diese Theorie erlaubt eine größere Flexibilität und Mobilität für Gesellschaften innerhalb der EU.

2. Unterschied zwischen Wegzugsfall und Zuzugsfall

Der Europäische Gerichtshof unterscheidet in seiner Rechtsprechung zwischen Wegzugsfall und Zuzugsfall.

a) Wegzugsfall

Ein Wegzugsfall liegt vor, wenn eine Gesellschaft ihren Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen möchte. Dies kann sowohl die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes als auch die Änderung der Rechtsform umfassen. Die EuGH-Rechtsprechung erlaubt den Mitgliedstaaten, solche Wegzüge zu regulieren, solange dies im Einklang mit dem EU-Recht steht.

b) Zuzugsfall

Ein Zuzugsfall liegt vor, wenn eine Gesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat ihren Verwaltungssitz in den eigenen Staat verlegt. Hier gilt die Gründungstheorie, die besagt, dass die Gesellschaft ihr ursprüngliches Gründungsrecht beibehält. Die Mitgliedstaaten in die die Gesellschaft ihren Verwaltungssitz verlegt, müssen die Rechtsfähigkeit und die Gründungsform der Gesellschaft im Wegzugsstaat anerkennen, was die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU stärkt.

3. Bedeutung für die Praxis

Die Wahl zwischen Sitztheorie und Gründungstheorie hat erhebliche praktische Auswirkungen auf die Niederlassungsfreiheit und die rechtliche Behandlung von Gesellschaften. Diese Theorien beeinflussen insbesondere die Möglichkeiten und Hindernisse für Gesellschaften, ihren Sitz zu verlegen oder grenzüberschreitend tätig zu werden.

4. Wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in mehreren wegweisenden Entscheidungen die Anwendung dieser Theorien geklärt und die Rechte von Gesellschaften innerhalb der EU gestärkt.

Das Ganze begann mit dem sog. Daily Mail Fall und setzte sich mit einer Reihe wichtiger Entscheidungen fort.

Daily Mail Fall und sein Einfluss

Die britische Gesellschaft Daily Mail wollte ihren Verwaltungssitz in die Niederlande verlegen, ohne ihre Steuerresidenz zu ändern. Das Vereinigte Königreich verweigerte die Genehmigung (zum Wegzug). Der EuGH entschied, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Verlegung des Verwaltungssitzes zu regeln. Diese Entscheidung unterstrich die Bedeutung der Sitztheorie in Wegzugsfällen und zeigte, dass Mitgliedstaaten Kontrollmechanismen einführen können, solange sie die Grundfreiheiten des Binnenmarktes respektieren.

Centros (EuGH, Urteil vom 9. März 1999, C-212/97)

In diesem Fall (sog. Zuzugsfall) wollte die dänische Gesellschaft Centros Ltd., die in Großbritannien gegründet wurde, in Dänemark eine Zweigniederlassung eröffnen. Die dänischen Behörden verweigerten dies, weil sie annahmen, Centros wolle die strengeren dänischen Gründungsvorschriften umgehen. Der EuGH entschied zugunsten von Centros und stellte fest, dass die Verweigerung der Niederlassung gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verstößt. Dies unterstreicht die Bedeutung der Gründungstheorie und ermöglicht Gesellschaften, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, ohne ihre Rechtsform ändern zu müssen.

Überseering (EuGH, Urteil vom 5. November 2002, C-208/00)

In diesem Fall (Zuzugsfall) verlegte eine niederländische Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland. Die deutschen Gerichte verweigerten der Gesellschaft die Rechtsfähigkeit, da sie nach deutschem Recht gegründet sein müsste. Der EuGH entschied, dass dies gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. Die Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft ist zwingend, was die Gründungstheorie erneut bestätigt.

Inspire Art (EuGH, Urteil vom 30. September 2003, C-167/01)

Dieser Fall (zuzugsfall) betraf eine niederländische Gesellschaft, die in Großbritannien gegründet wurde und in den Niederlanden tätig war. Die niederländischen Behörden wollten zusätzliche Anforderungen an die Gesellschaft stellen, um den Schutz von Gläubigern zu gewährleisten. Der EuGH entschied, dass solche Anforderungen gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen, sofern sie die Gesellschaft ungebührlich behindern. Dies stärkte die Anwendung der Gründungstheorie und schränkte die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten ein, zusätzliche Anforderungen an ausländische Gesellschaften zu stellen.

Cartesio (EuGH, Urteil vom 16. Dezember 2008, C-210/06)

In diesem Fall (Wegzugsfall) wollte eine ungarische Gesellschaft ihren Sitz nach Italien verlegen, ohne ihre Rechtsform zu ändern. Der EuGH entschied, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, den Wegzug einer Gesellschaft und die damit verbundene Änderung ihrer Rechtsform zu regulieren. Diese Entscheidung bestätigte die Gültigkeit der Sitztheorie in Wegzugsfällen und unterstrich, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, den Wechsel des Verwaltungssitzes zu kontrollieren, solange dies im Einklang mit dem EU-Recht steht.

Vale (EuGH, Urteil vom 12. Juli 2012, C-378/10)

In diesem Fall (Zuzugsfall) ging es um die grenzüberschreitende Verschmelzung einer italienischen Gesellschaft mit einer ungarischen Gesellschaft. Der EuGH entschied, dass die Mitgliedstaaten die Umwandlung einer Gesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat anerkennen müssen, sofern dies im Einklang mit dem EU-Recht steht. Diese Entscheidung bestätigte die Niederlassungsfreiheit und erleichterte grenzüberschreitende Umwandlungen.

5. Deutsche Rechtsprechung und Gesetzgebung

In Deutschland wurde lange Zeit die Sitztheorie angewandt, was bedeutet, dass eine Gesellschaft nach deutschem Recht gegründet sein muss, um als solche anerkannt zu werden. Die vorzitierte EuGH-Rechtsprechung hat jedoch zu einer Anpassung dieser Praxis geführt. Innerhalb der EU-Staaten wird auch in Deutschland die Gründungstheorie angewandt.

§ 4a GmbHG

Der § 4a GmbH-Gesetz (GmbHG) wurde eingeführt, um der EuGH-Rechtsprechung gerecht zu werden und die grenzüberschreitende Mobilität von Gesellschaften zu erleichtern. Dieser Paragraph ermöglicht es ausländischen Gesellschaften, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegründet wurden, ihren Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen und dennoch als ausländische Gesellschaft anerkannt zu werden.

6. Entwicklung der Rechtsprechung

Die EuGH-Rechtsprechung hat die Anwendung der Sitztheorie in den Mitgliedstaaten erheblich eingeschränkt und die Gründungstheorie gestärkt. Dies hat die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU wesentlich gefördert und die Mobilität von Gesellschaften erleichtert. Durch die Entscheidungen in den Fällen Centros, Überseering, Inspire Art, Cartesio und Vale hat der EuGH klargestellt, dass die Mitgliedstaaten ausländische Gesellschaften anerkennen müssen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegründet wurden, und ihnen die Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht ungebührlich erschweren dürfen.

7. Fazit

Die Sitztheorie und die Gründungstheorie sind zentrale Konzepte im Gesellschaftsrecht, die die rechtliche Behandlung und Mobilität von Gesellschaften innerhalb der EU bestimmen. Die EuGH-Rechtsprechung hat die Anwendung der Gründungstheorie gestärkt und die Niederlassungsfreiheit gefördert, während aber die Sitztheorie in Wegzugsfällen weiterhin Bedeutung hat. Die deutsche Gesetzgebung hat sich dieser Entwicklung angepasst, um den Anforderungen des EU-Rechts gerecht zu werden. Für Rechtssuchende ist es wichtig, diese Theorien und die einschlägige Rechtsprechung zu verstehen, um die rechtlichen Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Tätigkeiten von Gesellschaften richtig einschätzen zu können.

 

Gerhard Greiner
Rechtsanwalt