Arbeitsrecht

17.12.2023

Massenentlassung – Grundlegende Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Eine Massenentlassung liegt – sehr vereinfacht gesagt – dann vor, wenn ein Arbeitgeber eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern „auf einen Schwung“ entlassen will. Geregelt ist das Ganze in den §§ 17 ff Kündigungsschutzgesetz.

Die Massenentlassung hat der Arbeitgeber der Agentur anzuzeigen. Dies geschieht in aller Regel über ein von der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestelltes Formular, in dem der Arbeitgeber all jene Angaben zu machen hat, die in § 17 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz aufgeführt sind. Besteht im Betrieb ein Betriebsrat, ist ein sog. Konsultationsverfahren durchzuführen; dazu sind dem Betriebsrat detailliert Auskünfte zu erteilen und Angaben zu machen, die in § 17 Abs. 2 KSchG aufgeführt sind. Die Agentur für Arbeit wiederum ist über die Unterrichtung des Betriebsrats und den Stand des Konsultationsverfahrens zu informieren.

All das ist sehr ineinander "verschachtelt" und hierbei können leicht Fehler gemacht werden. Solche Fehler können beispielsweise darin bestehen, dass versehentlich ein von der beabsichtigten Kündigung betroffener Arbeitnehmer nicht genannt wird oder dessen Funktion falsch benannt oder ein Arbeitnehmer nicht der richtigen Berufsgruppe zugeordnet ist. Auch kann es sein, dass die Anzeige an die Agentur für Arbeit nicht haargenau mit der Unterrichtung des Betriebsrats übereinstimmt.

Die Konsequenz solcher Fehler war nach der bislang strengen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Unwirksamkeit jeder einzelnen Kündigung, die im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochen wurde. Und das trieb jedem Arbeitgeber und vielen Arbeitgeberanwälten den nackten Schweiß auf die Stirn. Sind nämlich die Kündigungen wegen kleinerer Fehler plötzlich unwirksam, muss das Massenentlassungsverfahren ganz oder in Teilen neu durchgeführt und eine Kündigung erneut ausgesprochen werden. Für den Arbeitgeber und die Arbeitgeberanwälte ist das der GAU, denn der wirtschaftliche Schaden ist in so einem Fall beträchtlich; er geht schnell in den 7-stelligen Bereich.

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als zu streng, zu abgehoben und auch in der Sache selbst als ungerechtfertigt empfunden. Zuletzt hatte wohl auch das Bundesarbeitsgericht die Kritik aufgegriffen und legte in drei aktuellen Verfahren die Sache in einem sog. Vorabentscheidungsersuchen dem Europäischen Gerichtshof vor. Der wiederum war hierfür zuständig, da die §§ 17 ff KSchG auf der europäischen Massenentlassungsrichtlinie beruhen. Und siehe da, der Europäische Gerichtshof meinte dazu, dass die Mitteilungspflichten im Massenentlassungsverfahren nicht den Zweck haben, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren (EuGH vom 10.07.2023, C-134/22). 

Daraufhin hat der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts am 14. Dezember 2023 drei Verfahren ausgesetzt (Az. 6 AZR 157/22 (B), 6 AZR 155/21 (B) 6 AZR 121/22 (B)) und eine Änderung der Rechtsprechung angekündigt.

Das liest sich in einer Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts dann so:

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Hierin liegt eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts seit dessen Urteil vom 22. November 2012 (- 2 AZR 371/11 -). Der erkennende Senat hat deshalb in dem Verfahren – 6 AZR 157/22 (B) – mit Beschluss vom heutigen Tag nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angefragt, ob der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhält, und den Rechtsstreit bis zur Beantwortung der Divergenzanfrage entsprechend § 148 ZPO ausgesetzt. Da die Rechtsfrage auch die Verfahren – 6 AZR 155/21 (B) – und – 6 AZR 121/22 (B) – betrifft, wurden diese ebenfalls ausgesetzt.

Weil der 6. Senat an der bisherigen (strengen) Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht mehr festhalten möchte, dem aber noch die bisherige (ältere) Rechtsprechung des 2. Senats entgegensteht, soll nun auch der 2. Senat dazu Stellung nehmen.

Zu erwarten ist, dass sich auch der 2. Senat der beabsichtigten Rechtsprechungsänderung anschließen wird und künftig nicht mehr jeder kleine Fehler zur Unwirksamkeit aller Kündigungen im Massenentlassungsverfahren führen würde. Für Praktiker auf Arbeitgeberseite würde dies eine deutliche Erleichterung bedeuten. Dennoch sei betont, dass das Massenentlassungsverfahren eine komplexe und schwierige Materie bleiben wird, die größte Sorgfalt erfordert.

Nachtrag: 

Der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit Beschluss vom 01.02.2024 das Anfrageverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union um die erforderliche Beantwortung von Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ersucht.
 
Endgültige Klarheit zu diesem Themenkreis wird also noch auf sich warten lassen.
 
Gerhard Greiner
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht